Auch nach der Vertreibung hielt Pater Konrad Pickmeier (* 1894; † 1964) engen Kontakt zu den Angehörigen seiner früheren Pfarrgemeinde in Marzdorf. Seit 1949 nutzte er dazu den dreimal jährlich erscheinenden Rundbrief der Priester der Freien Prälatur Schneidemühl in der Grenzmark Posen-Westpreußen. Im Rundbrief veröffentlichte er Familiennachrichten und Todesfälle aus dem Kreis der Vertriebenen oder erinnerte an wichtige Ereignisse der weit verstreuten Gemeinde. Für das Weihnachtsheft 1960 verfasste er die nachfolgend wiedergegebene Erinnerung an das Weihnachtsfest im Kriegsjahr 1940.
Erste Kriegsmette in Königsgnade
So fing es an. Am 30. Juni 1940 kam ich zur Unterstützung des erkrankten Pfarrers Rehbronn1Der aus Lubsdorf stammende Leo Rehbronn (* 1887; † 1944) war seit April 1935 Pfarrer in Marzdorf für 14 Tage oder drei Wochen nach Marzdorf und Weihnachten feierten wir um Mitternacht in Königsgnade die erste Christmette. Im Advent saßen wir im Marzdorfer Pfarrhaus bei Tische. Ich berichtete, ein Königsgnader habe mir von früheren Kirchbauplänen erzählt. Obstbäume waren gefällt worden, ein Garten war für den Kirchbauplatz schon baureif gemacht, Steine waren angefahren worden. Aus dem Bau sei doch nichts geworden, das Geld sei durch die Inflation entwertet. Die alten Leute hätten im Winter keine Möglichkeit zur heiligen Messe zu kommen. Marzdorf sei für diese zu weit. Und als ich zu der Erzählung hinzufügte, man könne doch für die alten Leute vielleicht mal eine heilige Messe in Robecks Saale halten, fragte mich Pfr. Rehbronn: »Wollen Sie diese Angelegenheit bei der Prälatur einmal vorbringen?«
Ich sagte sofort zu und am anderen Morgen ritt ich meinen Drahtesel über Harmelsdorf, Dyck, Arnsfelde nach Schneidemühl. Prälat Hartz war ganz zugänglich, väterlich fragte er, nachdem er meine Bitte gehört: »Was sagt denn Rehbronn?« — »Nun, der schickt mich zu Ihnen, Herr Prälat.« — »Wenn Du die Sache ordentlich vorbereitest, dann halte meinetwegen schon mal eine heilige Messe für die alten Mütterchen. Halte sie aber nicht öfter als Rehbronn es will. Verstehst Du mich?«
Bei meiner Heimkehr lachte Rehbronn übers ganze Gesicht. »Nun sehen Sie zu, wie Sie die Sache in die Reihe kriegen«, sagte er zu mir. Frl. Hedwig2Hedwig Rehbronn († 1960), die Schwester und Haushälterin des Pfarrers. gab zu bedenken: »Ihr ladet Euch was auf …«
Weiter hörte ich nichts, da ging mein Rad schon mit Schwung um die Ecke nach Königsgnade. Der gute Johann Robeck3Johann Robeck (* 1875; † 1961) war Bauer und Gastwirt in Königsgnade. glaubte wohl einen Scherz zu hören und gab mir erst gar keine Antwort. Als ich den Saal sehen wollte, fragte er: »Ist das Ihr Ernst?« Ich erzählte von meiner Unterhaltung mit dem Propst, von Schneidemühl, von der Aussprache mit dem Prälaten. Da fiel der Groschen. Er holte zunächst mal einen guten Kognak. Seine Frau musste Kaffee bringen und Schinken holen. Dem lieben Johannes standen die Freudentränen in den Augen.
Sein Saal, mit dem er schon soviel Ärger gehabt, sollte nun Kirche werden! Ärger? Jawohl! Wenn die Königsgnader den Saal benutzen wollten, dann war das dem guten Johannes schon recht. Aber, wenn die mit den braunen Hosen von Tütz, Deutsch Krone oder sonst den Saal für die Partei wollten, dann sah das anders aus. Und wenn am Abend noch zwanzig Zentner Kartoffeln aus der Miete geholt werden mußten, um sie im Saale zu trocknen. Die Partei fand den Saal besetzt.
Jetzt sollte der Saal Kirche werden! Das passte Robeck. Auch das letzte Eckchen wurde gesäubert, kleine Schäden ausgebessert, ein fester Altar mit einem massiven Kreuz wurde gezimmert. Bald sah der Raum tatsächlich stimmungsvoll aus wie eine Kirche.
Weihnachten zwölf Uhr Christmesse in Königsgnade, sechs Uhr in Brunk, acht Uhr in Lubsdorf, zehn Uhr Hochamt in Marzdorf, wurde am vierten Adventssonntag verkündet. Die Leute staunten mich an. Das war noch nie dagewesen. War das nicht ein Irrtum?
Am Heiligen Abend wurde der Pater im besten Gespann nach Königsgnade geholt. Unterwegs eine wahre Völkerwanderung. Der Saal strahlte im hellen Kerzenlicht. Zwei große Weihnachtsbäume mit vielen Lichtern am Altare, in allen Ecken Tannenäste mit Lichtern. Ein Lichtermeer! Soviel Menschen hatte der Saal noch nicht gesehen. Lubsdorf, Marzdorf, Böthin, Brunk, Prochnow, selbst See Garskes Oma und Opa waren durch den hohen Schnee gekommen. Ein Organist war zur Stelle. Aber die Leute sangen mit solcher Begeisterung, dass das Harmonium nur gehört wurde, wenn es dem Pater den Ton angab.
Das war eine der feierlichsten Weihnachtsfeiern meines Lebens, weil alle so begeistert waren. Und Robeck meinte: »Jetzt ist der Saal für die Partei ›entweiht‹. Er ist nun Kirche.«
Für mich hatte die Feier einen Haken. Nach der Christmesse mußte ich einen Versehgang machen. Erst gegen vier Uhr kam ich etwas müde zurück. Für fünf Uhr war der Schlitten nach Brunk bestellt. Ich streckte mich auf dem Chaiselongue etwas aus und schlief so fest ein, dass ich das Schellen des Kutschers an der Tür gar nicht hörte. Um zehn nach sechs wurde ich plötzlich wach, wohl fand ich im 30 cm hohen Schnee noch die Schlittenspuren vor der Tür, aber der Schlitten war weg. Ich griff zum Fahrrad. Teils fuhr [ich] in Morowskis4Franz Morowski (* 1883) war Bauer in Marzdorf. Schlittenspur nach Brunk, teils bin ich getrabt. Um sieben Uhr kam ich keuchend an. Lehrer Wachholz5Marzell Wachholz (*1881; † 1963) war von 1906 bis 1945 in Brunk als alleiniger Lehrer tätig. hatte mit seinen Leuten alle Weihnachtslieder von»Stille Nacht« bis »Was ist das doch ein holdes Kind« durchgesungen. Nun wollten sie enttäuscht nach Hause. Acht Uhr war das feierliche Hochamt in Brunk aus und halb neun kam ich zur Achtuhrmesse in Lubsdorf an. Schon bei der Burg konnte ich Josef Manthey6Josef Manthey († 1962) war Bürgermeister und Amtsvorsteher in Lubsdorf. mit der Gemeinde die Weihnachtslieder singen hören.
Um zehn Uhr fing Pfarrer Rehbronn in Marzdorf das Amt an. Da konnte ich wenigstens vor der Predigt noch einen Schluck Kaffee trinken. Das war sozusagen Kirchweihe und erste Christmette in Königsgnade. Frische Wäsche war selbstverständlich fällig. Trotz allem, schön war es doch!
Pickmeier, Konrad: Erste Christmette in Königsgnade 1940. In: Rundbrief der Priester der Freien Prälatur Schneidemühl in der Grenzmark Posen-Westpreußen [Hrsg.: Ludwig Polzin], Weihnachten 1960, S. 25-26.
Anmerkungen:
- 1Der aus Lubsdorf stammende Leo Rehbronn (* 1887; † 1944) war seit April 1935 Pfarrer in Marzdorf
- 2Hedwig Rehbronn († 1960), die Schwester und Haushälterin des Pfarrers.
- 3Johann Robeck (* 1875; † 1961) war Bauer und Gastwirt in Königsgnade.
- 4Franz Morowski (* 1883) war Bauer in Marzdorf.
- 5Marzell Wachholz (*1881; † 1963) war von 1906 bis 1945 in Brunk als alleiniger Lehrer tätig.
- 6Josef Manthey († 1962) war Bürgermeister und Amtsvorsteher in Lubsdorf.