Ein Koffer aus Königsgnade

Beim Entrümpeln des elterlichen Dachbodens fand meine Cousine Angela im Mai dieses Jahres einen alten Holzkoffer, der noch aus Königsgnade stammt. Offenbar nutzten meine Großeltern Hedwig und Martin Radke das Fundstück bis zu ihrem Tod, um amtliche Papiere und andere Unterlagen aufzubewahren, die das Behältnis heute bis fast zur Hälfte füllen. — Ich kann mich nicht entsinnen, den Koffer je vorher gesehen zu haben, obwohl der Dachboden meiner Tante, in deren Haus auch meine Großeltern lebten, ein beliebter Kinderspielplatz war. Meine Cousine erkannte ihn hingegen auf Anhieb; seine Existenz war ihr freilich längst entfallen.

Nach der Familienüberlieferung baute mein Großvater den Koffer, der etwa 50 mal 27 mal 17 Zentimeter mißt, im Winter 1945/46 aus Holzresten und dem Leder alter Pferdeschirre zusammen. Meine Großmutter hatte von einer Polin, die seit einiger Zeit mit im Haus der Familie wohnte, erfahren, dass die Deutschen aus Königsgnade ausgewiesen werden sollten. Meine Großeltern hofften nun, mit Hilfe einiger selbstgefertigter Transportmittel wenigstens einige Besitzstücke mit in die Fremde nehmen zu können.

Der Koffer aus Königsgnade

Mein Großvater war zu jener Zeit schon ein Mann von fast 60 Jahren, der sich als Bauer alter Art auf nahezu jedes Handwerk verstand. Seine Frau war fast 20 Jahre jünger; sie besaß das kommunikative Talent, das meinem eher wortkargen Großvater abging. Zusammen hatten die beiden fünf Kinder im Alter zwischen zwölf und anderthalb Jahren. Eine Schwester meines Großvaters und sein an chronischem Rheuma leidender Bruder, die beide unverheiratet auf dem Bauernhof lebten, komplettierten die Familie.

Bekanntlich erfolgte die Ausweisung am 28. März 1946. Zusammen mit den meisten anderen Dorfbewohnern wurde auch die Familie meines Großvaters über Marzdorf nach Tütz gebracht, dort in einen Güterzug verladen und nach Stettin transportiert. Im Lager Stettin-Frauendorf erkrankte sein Bruder an Typhus und kam unter Quarantäne. Die übrige Familie bestieg ein Schiff, das unter britischer Besatzung nach Travemünde fuhr, wo der Transport am 10. April endete.

Schon auf der Zugfahrt von Tütz nach Stettin wurden meine Großeltern mehrfach ausgeplündert. Mein Onkel berichtete später darüber:

»Während der Bahnfahrt trieben Diebesbanden ihr Unwesen und raubten die Vertriebenen bis aufs Hemd aus. Auch unser Wagen wurde heimgesucht. Nicht nur das wenige Gepäck, sondern auch Teile der Kleidung, die die Leute trugen, wurden ihnen genommen. Im Abteil herrschte schreckliche Angst und keiner wagte es, etwas dagegen zu unternehmen.«1J. Radke: Erinnerungen an Kindheit und Jugend, o. O. u. J. [2015], S. 10.

In Stettin gingen die Diebstähle weiter und das einzige der Gepäckstück der Familie, das es bis Travemünde schaffte, war der kleine Holzkoffer. In ihm befanden sich, unter Babysachen verborgen, auch einige Dokumente, mit denen mein Großvater den Besitz des Bauernhofs in Königsgnade belegen wollte. Die Mitnahme solcher Papiere war den Ausgewiesenen verboten. Meine Großmutter behauptete später, der Koffer wäre nur deshalb vor den Diebesbanden wie auch von den polnischen Grenzkontrolleuren verschont geblieben, weil ein Kruzifix oben auf den Babysachen lag.

Von Travemünde aus begleitete der Koffer meine Großeltern in ihre verschiedenen Quartiere im von Heimatlosen überfüllten Nachkriegs-Deutschland: Erst nach Wittenberg bei Preetz in Holstein, dann nach Bleialf in der Eifel, endlich 1959 ins Haus meiner Tante, wo er sich nun auf dem Dachboden wiederfand. Beide Lederscharniere und der Verschluss haben den Lauf der Zeiten gut überstanden, aber der einstige Tragegriff ist verschwunden und das Holz weist einige Wurmlöcher auf. Ein Pappschild auf der Oberseite soll früher die Adresse meiner Großeltern in Königsgnade gezeigt haben, heute ist es vollkommen verblichen. Auf der Unterseite finden sich allerdings noch zwei Adressen, die mit Farbe aufgemalt sind. Die erste Anschrift lautet »Martin Radke, Schloß Wittenberg, Preetz b. Plön«, die zweite »Agnes Rohde, Lübeck-Siems, Flenderlager Ⅲ«.

Agnes Rohde war zugleich die Tante und die Stiefmutter meiner Oma. Sie wurde im August 1946 von Polen ausgewiesen, lebte dann eine zeitlang in einem Flüchtlingslager bei Lübeck, zog 1949 nach Kaltenhof im Kreis Eckernförde und 1951 zu meinen Großeltern nach Bleialf. Offenbar nutzte sie für ihre Umzüge den Koffer aus Königsgnade. Vor der Ausweisung besaß Agnes Rohde zusammen mit meinem Urgroßvater Desiderius Rohde einen Bauernhof in Stranz auf dem Abbau. Sie kam als Witwe nach Lübeck, denn mein Urgroßvater verstarb im Mai 1945 auf seinem Hof.

Welche Unterlagen enthält nun der Koffer? – Sie lassen sich in sechs Kategorien unterteilen:

  1. Dokumente, aus der Zeit vor 1945, die den Bauernhof in Königsgnade betreffen,
  2. Dokumente zum Lastenausgleichsverfahren meines Großvaters,
  3. Dokumente zum Lastenausgleichsverfahren von Max Radke, einem Bruder meines Großvaters,
  4. Dokumente zum Lastenausgleichsverfahren von Agnes Rohde,
  5. Ausweise, Sparbücher und Urkunden zu den genannten Personen.
  6. Persönliche Briefe und Brieffragmente.

Die Unterlagen der ersten Kategorie sind für mich besondern wichtig; ich will ihnen daher an dieser Stelle etwas mehr Raum geben. Das älteste Dokument ist eine »auszugsweise Abschrift« des gerichtlichen Überlassungsvertrags, mit dem mein Großvater am 4. Oktober 1930 den Bauernhof Königsgnade Band Ⅰ Blatt 5 übernahm. Im Gegenzug hatte er seiner Mutter ein umfangreiches Altenteil im Jahreswert von »800 Goldmark nach der jetzigen Reichsmark« zu gewähren, je 10 000 Goldmark an die beiden auf dem Hof lebenden Geschwister zu zahlen und seinen Bruder Max, der einen eigenen Hof in Königsgnade besaß, mit 2000 Goldmark abzufinden. Der Gesamtwert des übertragenen Hofes wurde auf 35 000 Reichsmark geschätzt, das entspricht nach heutiger Kaufkraft etwa 150 000 Euro2Berechnet nach den Angaben der Deutschen Bundesbank unter: https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/94b87ff6d25eceb84c9cfb801162b334/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf.. Der Überlassungsvertrag wurde vor dem Amtsgericht Märkisch Friedland (Richter Bock, Justizobersekretär Krienke) geschlossen. Die Größe des Bauernhofs ist im Vertrag nicht angegeben, aufgeführt ist jedoch, dass zu ihm auch die Wiesen Brunk Band Ⅴ Blatt 126 gehörten, die vielleicht meine Urgroßmutter – eine geborene Heymann aus Brunk – eingebracht hatte.

Meine Urgroßmutter (sitzend), mein Großvater und seine Geschwister ca. 1930

Am 2. Dezember 1930 wurden die Geschwister meines Großvaters über die Überlassung informiert und auch darüber, dass für sie unter den Nummern 1 bzw. 2 der dritten Abteilung des Grundbuchs eine versicherte Schuld von je 10 000 Goldmark eingetragen stand. Bis auf diese beiden Posten war der Hof schuldenfrei. Die beiden Auflassungsbescheide des Amtsgerichts für den »Landwirt Paul Radke« und das »Fräulein Martha Radke« befinden sich im Koffer. Dort befindet sich auch ein Auszug aus dem »Gerichtlichen Verzeichnis« des Anerbengerichts in Märkisch Friedland vom 6. April 1934, der meinem Großvater bestätigte, dass sein Bauernhof in Königsgnade mit einer Größe von 41 Hektar, 48 Ar und 91 Quadratmetern für die Eintragung in die »Erbhöferolle in Aussicht« genommen sei. Der Richter am Anerbengericht hieß übrigens wiederum Bock.

Die letzten Dokumente, die noch aus Königsgnade stammen, sind zwei Versicherungsscheine über Feuerversicherungen. Die Gebäudeversicherung wurde am 29. April 1931 mit der Nordstern und Vaterländischen Allgemeinen Versicherungsaktiengesellschaft in Stettin über den Versicherungswert von 17 650 Reichsmark abgeschlossen. Versichert waren das massive Wohnhaus mit Ziegeldach, der ebenfalls massive und ziegelgedeckte Viehstall, ein massiver Pferde- und Schweinestall mit Ziegeldach, ein massiver Anbau ans Wohnhaus, die massive Waschküche mit Pappdach, ein Schuppen aus Holz mit Pappdach und eine Scheune aus Holz mit Strohdach. Die Versicherung sollte am 1. April 1941 auslaufen, die Prämie belief sich inklusive Versicherungssteuer auf jährlich 40,20 RM. Die Kiste enthält das Fragment eines Briefes, mit dem mein Großvater am 14. Juli 1943 die Versicherungsumme des offenbar verlängerten Vertrages auf 30 900 Reichsmark erhöhte.

Alte Versicherungspolicen meines Großvaters

Ergänzend zur Gebäude-Feuerversicherung schloss mein Großvater am 1. Mai 1935 einen Vertrag mit der Schlesischen Feuerversicherungs-Gesellschaft in Breslau ab – oder besser gesagt, mit deren Vertreter Manthey in Märkisch Friedland. Diese Versicherung betraf den Hausrat, den landwirtschaftlichen Viehbestand, die laufende Ernte und das gesamte tote Inventar mit einer Versicherungssumme von 19 100 Reichsmark, wofür eine Jahresprämie von 61,90 RM fällig wurde. Der Vertrag mit der Schlesischen lief bis zum 1. Mai 1940, wurde aber von meinem Großvater zuletzt am 24. Juni 1943 verlängert, wobei er die Versicherungssumme auf 19 600 Reichsmark erhöhte. Als Anschrift des Hofes in Königsgnade ist im Versicherungsschein die »Dorfstraße 11« genannt.

Der ganz überwältigende Teil der Unterlagen im Koffer gehört der zweiten Kategorie an, betrifft also den Lastenausgleich, bei dem die deutsche Bürokratie ihre Sternstunde erlebte. Dutzende von Teilbescheiden, vorläufigen Festlegungen, Abänderungen und Ergänzungen zu früheren Festsetzungen erreichten meine Großeltern, die dann meine Tante mit der Beantwortung der oft nur schwer verständlichen Fragen beauftragten. In den Jahren 1947 und 1954 gaben meine Großeltern zweimal detaillierte Fragebogen zum verlorenen Besitz ab, zum Viehstand und den Ernteerträgen. Bei der Schadensberechnungen, die erstmals im Mai 1959 erfolgte, spielten diese Angaben freilich keine Rolle. Das Lastenausgleichsamt multiplizierte die Betriebsgröße einfach mit einem vorher für den Kreis Deutsch Krone festgelegten Pauschalsatz (850 RM pro Hektar) und errechnete so einen Vertreibungsschaden von 34 850 Reichsmark. Damit fiel mein Großvater in die »Schadensgruppe 19« (Schäden bis 48 000 RM) und hatte Anspruch auf eine Hauptentschädigung von 13 420 DM. Aus dem »Verlust an Hausrat« wurden der Familie im Februar 1960 weitere 2300 DM zugesprochen.

Von der Kaufkraft her entsprachen 15 720 DM im Jahr 1960 etwa 43 000 Euro3Berechnet nach Ebenda. – nicht sehr viel Geld also. Aber auch diesen Betrag erhielt mein Großvater nicht ausgezahlt, denn der Staat rechnete alle Unterhaltungshilfen und Entschädigungsrenten, die die Familie seit 1949 bezogen hatte, dagegen. Diese Sozialleistungen abgezogen, verblieb für meinen Großvater nur ein Zuschuss von 3355 Mark zu einem Darlehen über 8500 DM – mit dem er sich am Bau des Hauses meiner Tante beteiligte – sowie im Dezember 1971 ein »Mindesterfüllungsbetrag« von 467,50 DM. Obwohl die Hauptentschädigung durch den Gesetzgeber in den Jahren bis 1972 stufenweise auf 25 490 DM erhöht wurde, schloss das Lastenausgleichskonto meines Großvaters bei seinem Tod im Jahr 1975 mit einem rechnerischen Minus von 38 864,35 DM, das der Staat freilich nicht einforderte.

Die Unterlagen, die sich für Max Radke und Agnes Rohde im Koffer befinden, zeigen einen vergleichbaren Verfahrensablauf. Auch bei ihnen wurden die Ansprüche gegen Unterhaltsleistungen verrechnet und bis auf Restbeträge aufgezehrt. So durchgeführt half der Lastenausgleich vor allem den betroffenen Kommunen beim Ausgleich ihrer Soziallasten.

Natürlich tauschten sich die Ausgewiesenen aus Königsgnade in Lastenausgleichsangelegenheiten auch untereinander aus. Im Koffer befindet sich ein Brief von Magdalena Günterberg, die im Herbst 1946 schilderte, mit welchen Angaben sie den Fragebogen zum verlorenen Eigentum ausgefüllt hatte. »Ihr könnt es machen wie wir«, forderte sie meine Großeltern auf und fügte hinzu: »Es darf nicht zu hoch«. Die nachfolgende Tabelle stellt die Angaben für die Höfe Radke und Günterberg in Königsgnade gegenüber:

Martin RadkePaul Günterberg
Größe des Hofes41 ha 49 ar31 ha 59 ar
Wohnhaus1890 erbaut, Wert: 10 000 Mark1905 erbaut, Wert: 12 000 Mark
Stall1898 erbaut, Wert: 10000 Mark1933 erbaut, Wert: 11 000 Mark Wert
Stall1872 erbaut, Wert: 5000 MarkWert: 4000 Mark
ScheuneWert: 5000 Mark1894 erbaut, Wert: 4500 Mark Wert
Pferde3 Stück, Wert: 5200 Mark2 Stück, Wert: 3100 Mark
Rindvieh26 Stück, Wert: 12 000 Mark26 Stück, Wert: 12 000 Mark
Schweine18 Stück, Wert: 2800 Mark12 Stück, Wert: 4600 Mark
Schafe5 Stück, Wert: 450 Mark7 Stück, Wert 650 Mark
Hühner70 Stück, Wert: 315 Mark80 Stück, Wert 380 Mark
Zuchtgänse4 Stück, Wert: 60 Mark4 Stück, Wert 125 Mark

In einem anderen Brief wird der Hof von Desiderius Rohde in Stranz geschildert. Dieser war 44,45 Hektar groß; gehalten wurden vier Pferde, zehn Kühe, vier Sterken, sechs Kälber, acht Stück Mastvieh, acht Schweine und 30 Hühner. Den Gebäudewert insgesamt schätzte Paul Radke, der Bruder meiner Großmutter, auf 30 000 Mark. Zum Hof gehörte außer dem 1905 erbauten Wohnhaus der Familie ein Arbeiterhaus für drei Familien im Dorf.

Mehrere Dokumente im Koffer betreffen die »Umstellung von Altsparervermögen«. Im Mantel meiner Tante eingenäht, hatte mein Großvater einige Sparkassenbücher der Sparkasse Deutsch Krone nach Travemünde bringen können, die er im Jahr 1952 vom Kölner Postscheckamt auf DM umstellen ließ. Wie die Unterlagen im Koffer zeigen, schrumpfte das Sparguthaben dabei von 20 155,85 RM auf 1204,03 DM zusammen. Höher im Kurs standen Wertanlagen: Eine Reichsschuldanlage von 500 Reichsmark für meinen Urgroßvater Desiderius Rohde tauschte die Dresdner Bank 1970 im Verhältnis 1:1 mit 500 DM um – und zahlte zusätzlich 270 DM Zinsen.

Pässe und Ausweise im Koffer

Neben anderen Ausweisen findet sich im Koffer auch ein Mitgliedsausweis des Bundes der Vertriebenen Deutschen, dem mein Großvater – nach den eingeklebten Beitragsmarken – von 1960 bis 1964 angehörte. Trotz dieser Mitgliedschaft war er nie ein politischer Mensch. Die wirklichen Gedanken meiner Großeltern drückt eher eine religiöse Broschüre aus, die ich ebenfalls zwischen den Unterlagen fand: »Der Kreuzweg des Herrn in notvoller Zeit«. Dieser Traktat, 1946 von der Missionshandlung St. Wendel verteilt, ruft dazu auf, demütig in der Nachfolge Christi das Kreuz der Leides durch die Entbehrungen und Verluste der Nachkriegszeit zu tragen. Tatsächlich habe ich meine Großeltern nie verbittert oder empört über die Vertreibung, den Verlust ihrer früheren Lebensstellung oder die Ungerechtigkeit des Lastenausgleichs erlebt. Sie waren vor allem dankbar, mit ihren Liebsten davongekommen zu sein und genug zum Leben zu haben.

Anmerkungen:

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