Wenn man von Brunk aus ins Dorf kam, sah man auf der rechten Seite das kleine »Hexenhaus« der alten Frau Koplin. Das Hexenhaus hatte einen Giebel, der mit Holzbrettern verkleidet war. Immer wenn ich an dem Haus vorbeiging, habe ich geschaut, ob die Fensterläden, in die ein Herz hineingesägt war, aus Brezeln wären. In dem Haus war nur eine Stube gedielt, Hühner und Ziegen wohnten im Haus mit. Frau Koplin selbst trug stets eine Bluse, die ihren von der Arbeit gekrümmten Rücken noch betonte, und hatte immer einen Besen zur Hand. Sie wirkte wie ein Hexe und ich hatte immer Angst, wenn ich mit der Kuhherde an ihrem Haus vorbei mußte. Manchmal passierte es, daß eine Kuh über die niedrige Steinmauer sprang und über die Koplinschen Beete lief. Aber Mutter schickte ihr vom Brot backen ein »Bucherl« mit — das versöhnte sie. Frau Koplin war auch oft bei meiner Tante zu Besuch, die in unserem Haus wohnte. Im Krieg starb sie plötzlich. Die Russen machten das Haus zur Sauna.
Hinter dem Hexenhaus lag die Scheune von Albert Litfin. Früher hatte hier das Gehöfft der Familie Will gestanden, die Kossäthen waren. Ihr Hof brannte ab, als die Kinder beim Dreschen Feuer legten. Nur die Scheune blieb stehen und Albert Litfin erstand das Grundstück und nutzte sie. Die Wills zogen dann nach dem Kamp Robeck und Herr Will ging auf dem Gut Böthin arbeiten.
Hinter der Scheune war ein kleiner tiefer Teich mit sehr steilen Wänden. Auf diesem Teich hielten die Anlieger Will und Albert Radke ihre Enten. Der Teich war so tief, daß am Ufer immer eine Leiter und ein zusammengerollter Strick aufbewahrt wurde, zur Rettung bei Notfällen. Das Wasser war Quellwasser und selbst im Sommer sehr kalt. Keine Kuh wollte hier trinken. Einmal sprang ein Sohn von Remers in den Teich, um sich nach der Feldarbeit abzukühlen. Er bezahlte mit seinem Leben.
Auf der großen »Bleiche« hinter dem Feldweg weidete Max Radke seine Schafe. Die Wiese war auch ein beliebter Kinderspielplatz, die Kinder wurden von der alten Frau Will, die wir Oma nannten, beaufsichtigt. 1944 mußten auf der Wiese zwei Lehmhäuser gebaut werden. Die Häuser waren fertig bis aufs Dach und sind dann durch den Regen zusammengeschmolzen. Direkt an der Bleiche war ein großer Teich, der aus Regenwasser bestand. Er diente als Viehtränke.
Auf der anderen Straßenseite lag die neue Schule. Sie wurde 1932 erbaut, war hell und groß und hatte Zentralheizung. Anfangs hatten wir zwei Lehrer, doch Lehrer Heymann aus Brunk starb sehr jung und Lehrer Pfeiffer mußte alle Kinder allein in einer Klasse unterrichten. Die Schule wurde übrigens auch von den katholischen Kindern aus Prochnow besucht, denn hier gab es kein eigenes Gebäude.
Zur Schule gehörte eine Scheune, ein kleiner Stall und etwas Land, denn auch der Lehrer betrieb Landwirtschaft, um sein Gehalt etwas aufzubessern. Lehrer Otto Pfeiffer kam aus dem Hessischen, er war verheiratet, seine Frau war eine Lehrerstochter aus Knakendorf. Sie hatten zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, der Sohn wurde später auch Lehrer. Im Stall der Schule waren auch die Schultoiletten untergebracht. Sie hatten Wasserspülung, die an kalten Wintertagen oft einfror.
Bevor der Sportplatz hinter der Schule angelegt wurde, befand sich auf dem Grundstück ein Gehöfft, das abbrannte. Das Land hinter dem Sportplatz, das früher zu diesem Hof gehört hatte, wurde verkauft und – gegen den Widerstand der großen Bauern – geteilt. Es wurde vor allem von den Kossäthen im Dorf erworben, die soviel erstanden, wie sie mit zwei Milchkühen oder mit einem Pferd bearbeiten konnten. Für die schweren Arbeiten halfen ihnen die Bauern mit ihren Maschinen aus. Dafür arbeiteten die Kossäthen dann bei der Getreide- und Kartoffelernte mit. Nach dem ersten Weltkrieg gab es in Königsgnade nicht mehr viele Kossäthen. Die meisten waren Landarbeiter geworden und fanden Arbeit auf dem Gut Böthin oder aber in Alt Prochnow.
Unser Nachbar Eduard Garske war Kossäth, er besaß nur wenig Land und verdingte sich in Alt Prochnow. Als seine Frau zu Kriegsbeginn verstarb, machte er meinen Vater den Vorschlag, sein Land und unseres zusammen zu legen und die große Schläge gemeinsam zu bearbeiten, denn er wollte nicht mehr nach Alt Prochnow gehen. Meine Vater nahm den Vorschlag gerne an, denn weil aus unserer Familie niemand eingezogen war, wurden uns keine Kriegsgefangenen und keine Fremdarbeiter zugestanden und andere Arbeitskräfte waren nicht zu bekommen.
Ich weiß noch, dass Max Radke und auch Hedwig Neumann je eine polnische Familie zugeteilt bekamen. Auch bei Leo Schulz, der gegenüber Martin Radke wohnte, war ein junger Pole, Leo Łochowicz, untergebracht. Der hatte es sehr gut und wurde verwöhnt. Die meisten polnischen Fremdarbeiter in Königsgnade und auch in Lubsdorf kamen übrigens aus einer Stadt. Einem Mädchen, dass bei meinen Verwandten in Lubsdorf einquartiert war, habe ich nach 1970 viele Pakete geschickt.
Hinter dem Sportplatz, etwas zurückgezogen, lag das Gehöfft der Familie Breuer. Diese Familie zog aus Königsgnade fort und das Anwesen wurde von Franz Marx erworben. Im Haus gab es Strohbünde, in denen sich nach Kriegsende ein deutscher Soldat versteckte. Der Soldat lag oben auf dem Dachboden und konnte durch ein kleines Fenster über den umgebauten Schuppen das Haus verlassen. Er kam dann Nachts und wir gaben ihm Essen, das wir in einen Kasten auf der Tenne stellten. Irgendwann war das nicht mehr möglich, weil die Russen dauernd Wache schoben. Mein Bruder konnte den Soldat einmal sprechen: Er hieß Max Mast und kam aus Laupheim, wo er Kleinunternehmer war.
Das Wegkreuz vor dem Sportplatz sah etwa aus wie ein Tranformatorenhäuschen und war aus roten Backsteinen gemauert. Oben war nach jeder Himmelsrichtung ein Fenster eingelassen und dahinter befanden sich Bilder von St. Michael, von der Jungfrau Maria und vom Heiligen Josef. An der vierten Seiten war ein einfaches Kreuz abgebildet. Meine Mutter kaufte jedes Jahr zwanzig Seidenblumen, die mit Kerzen zusammen in die Fenster gestellt wurden. Um das Häuschen herum war ein kleiner Blumengarten angelegt, der von einem Eisenzaun umgeben war. Frau Koplin hatte den Schlüssel zum kleinen Tor im Eisenzaun und kümmerte sich um die Blumen. Die Wegkreuze sind auch heute noch vorhanden und werden geschmückt.
Das Haus von Albert Litfin war nicht schön anzusehen. Litfin war Kossäth; als er zwei Kühe hatte, teilte er die Stube und nutzte die eine Hälfte als Stall. Später kaufte Litfin auch noch ein Pferd und baute einen Stall aus weißen Ziegeln genau auf die Grenze zu Nachbar Bernhard Radke. Seine Schweine hielt Litfin im Vorgarten. Neben dem Haus von Albert Litfin stand das Spritzenhaus.
Bernhard Neumann, der zusammen mit Franz Marx in einem Haus wohnte, wurde vom Blitz erschlagen, als er mit einem Kuhgespann an der Scheune von Max Garske vorbeifuhr. Hier verliefen wohl Wasseradern, denn der Blitz schlug oft ein, in die umliegenden Bäume und auch in die Scheune. Mein Vater half Frau Neumann dann oft bei der Feldarbeit, denn eine Frau mit kleinen Kindern konnte diese Arbeit nicht schaffen.
Das Gasthaus Robeck hatte einen großen Saal, in der Hochzeiten, aber auch die Bauernversammlungen stattfanden. Nach 1933 gab es viele solcher Versammlungen, der Dorfdiener Max Garske lief dann mit einer Glocke durchs Dorf und forderte die Bauern auf, hinzugehen. Meist ging es um Ablieferungen und mein Vater machte immer ein besorgtes Gesicht. Bei Robecks konnte man auch die Dinge des täglichen Bedarfs kaufen, Waschpulver, Zucker oder auch Süßigkeiten. Vor dem Krieg kam oft der Fleischer Fritz aus Märkisch Friedland mit Pferd und Wagen ins Dorf. Fritz schlachtete die Schweine im Dorf und verkaufte auch Wurstwaren und Braten. Im Sommer, wenn nicht geschlachtet werden konnte, wurde auch schon mal ein Sonntagsbraten bei ihm bestellt, wenn das Geld da war. Einmal die Woche kam auch ein Kolonialwarenhändler aus Märkisch Friedland ins Dorf, erst mit Pferd und Wagen, später mit dem Auto. Im Krieg war das mit einem Mal alles vorbei. In den Städten gab es Lebensmittelkarten, aber die Dörfer galten als »Selbstversorger«. Nur Zucker und Mehl bekamen wir auf Marken.
Auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber dem Gasthaus, lag die alte Schule. Im Krieg waren hier französische Kriegsgefangene untergebracht, die bei der Landarbeit halfen. Eigentlich durften wir mit ihnen gar nicht reden, aber an diese Vorschrift hielt sich keiner im Dorf. Die Frau von Martin Radke bekam im Krieg großen Ärger, weil sie den Franzosen ein Radio gegeben hatte. Der Bürgermeister konnte sie mit Mühe und Not herauspauken.
Vor dem Hof von Leo Schulz stand der Glockenstuhl mit zwei Glocken. Die Glocken wurden jeden Abend und jeden Morgen geläutet und auch wenn jemand im Dorf gestorben oder Feuer ausgebrochen war. Weihnachten wurden die Glocken »gebeiert« — ein Bursche stieg dann auf den Turm und bearbeitete sie mit einem ledergepolsterten Klöppel. Das klang sehr schön.
Der größte Bauer in Königsgnade war Max Robeck, sein Hof lag außerhalb des Dorfes und wurde »Kamp« genannt. Auch Max Radke galt als sehr großer Bauer. Franz Garske gehörte auch zu den größeren, sein Hof war 59 Hektar und 27 Ar groß, das sind etwa 240 Morgen. Die meisten Höfe hatten 200 Morgen Land, angebaut wurden vor allem Winterroggen und Kartoffeln. Unser Getreide und auch die Kartoffeln haben wir nach Tütz verkauft. Dort und auch in Märkisch Friedland war am Bahnhof ein Landhandel. Die Kartoffeln wurde im Herbst und Frühjahr verladen, sie gingen nach Sachsen und ins Rheinland. Im Gegenzug haben wir dann Kunstdünger und Briketts eingekauft, auch Zusatzfutter fürs Vieh.
Die Milch musste schon einige Jahre vor Kriegsbeginn abgeliefert werden, vorher hatten die Bauern sie selber verarbeitet und verfüttert. Sie wurde jeden Morgen, abwechselnd von den Bauern, in Milchkannen nach Märkisch Friedland gefahren. Von dort kam etwas Mager- und Buttermilch zurück, die Butter wurde zugeteilt. Aber die Bauern waren nicht so dumm, es wurde Sahne abgeschöpft oder Milch zurückbehalten, so dass wir noch Butter und gute Milch zusätzlich hatten. Das Butterfass war irgendwo versteckt, unseres stand im Küchenkeller, denn erwischen durften wir uns nicht lassen.
Im Krieg musste auch eine bestimmte Menge Korn abgeliefert werden und das Vieh wurde laufend gezählt. Ob es dabei aber immer so genau zuging, glaube ich kaum. Es wurde so manches Kalb oder Schaf oder Schwein heimlich geschlachtet, denn wir mussten ja sehr schwer arbeiten. Die jungen Männer waren alle eingezogen, die Arbeit wurde von den Frauen, den Alten und einigen Kriegsgefangenen erledigt. Die Gefangenen haben aus dem selben Topf ihr Essen bekommen wie wir – Mutter hatte keine Zeit, ein spezielles Essen zu kochen.
Die großen Höfe in Königsgnade waren alle als geschlossenes Rechteck angelegt. Zur Straße hin stand das Wohnhaus, links und rechts die Ställe, nach hinten heraus die Scheune. Die Häuser waren meist aus rotem Backstein gemauert und hatten ein Fundament aus Bruchstein. Zur Straße hin gab es schön geschnitzte Haustüren, die aber fast nie geöffnet wurden. Jeder Besucher und auch der Postbote kam über den Hof und benutzte die Hintertür. Viele Häuser hatten noch die traditionelle »Schwarze Küche«, die fensterlos in der Mitte des Hauses lag. Fast alle Gebäude waren mit Dachziegel gedeckt, nur manche Scheunen trugen noch Strohdächer. Hinter den Gehöften hatte jeder Bauer ein Stück Land, das »Achterhof« genannt wurde. Hier waren Obstbäume gepflanzt und viele hatten hier auch einen Rübenacker. Hinter den Achterhöfen führte ein Notweg entlang, den man angelegt hatte als Pest und Cholera wüteten. Solche Notwege, die um die Dörfer herumführten, gab es in vielen Orten des Kreises.
Etwas außerhalb des Dorfes, nach Prochnow zu, lag das Haus des Händlers Drostowski, der mit Kurzwaren und Textilien handelte. Er hatte ein altes Auto, mit dem er die Dörfer abfuhr. Er war Jude und ist erst nach 1933 nach Königsgnade gezogen, wohl weil er hoffte, hier vergessen zu werden. Leider gelang es ihm nicht; eines Tages war die Familie verschwunden, man munkelte, der Bürgermeister habe ihn gewarnt. Eigentlich ist er der erste Heimatvertriebene.
Im Krieg wurde in der ehemaligen Wohnung von Drostowski ein N.S.-Kindergarten eröffnet. Die Partei wollte wohl dem Einfluss der Kirche etwas entgegensetzen. Aber es gelang ihnen nicht – keiner aus dem Dorf schickte seine Kinder hin und die Einrichtung hatte nicht lange Bestand.
Das Haus von Emil Schmidt trug die Hausnummer 1 und war auch das älteste Haus im Dorf. Es war noch aus Lehm gebaut. Als Königsgnade um 1820 gegründet wurde, bestanden alle Häuser im Dorf aus Lehm, der in den tiefen Mergelkuhlen gewonnen wurde. Bis zum ersten Weltkrieg nutzten die Bauern die Kuhlen auch, um die Bodenqualität zu heben. Sie fuhren den Mergel im Winter auf die Felder, wo die Bodenqualität schlecht war. Später gab es Kunstdünger und das mergeln hörte auf.
Hinter dem Haus von Emil Schmidt lag das alte Backhaus, das – genau wie die Wasserpumpen – nur noch von wenigen Familien genutzt wurde. Die meisten hatten einen eigenen Backofen am Haus und auch eigenen Wasseranschluß. Elektrischen Strom gab es auch überall in Königsgnade, manche Bauern (z.B. Martin Radke) hatten sogar elektrisches Licht in den Ställen und in der Scheune.
Bericht von Marta und Anna Garske.
Eine Karte des Dorfes (als .pdf) gibt es hier.