Durch Zufall fiel mir kürzlich eine Ansichtskarte in die Hände, die am 13. Juni 1921 aus Tütz nach Dramburg in der Neumark versandt wurde1Die Karte aus dem Verlag von F. Dilling in Tütz/Wpr. wurde im Januar 2021 bei allegro.pl versteigert. Der Barbier Fritz Dilling führte in Tütz am Markt ein Geschäft, in dem er auch Drogeriewaren anbot. Vermutlich ist er der Vater des Empfängers.. Empfänger war Hans Dilling, der das evangelische Lehrerseminar in Dramburg besuchte und dort in der »Seminar Stube I« wohnte. Mit der Karte luden die in Tütz lebenden Eltern den Sohn ein, sie am kommenden Sonntag, den 19. Juni nach Marzdorf zu begleiten, da »der Oberhofprediger Dryander im Park zu Marzdorf wie im Vorjahr eine Andacht« abhalten werde. Der evangelische K.G.V. – wohl Kirchengesangsverein – aus Tütz werde teilnehmen und »im Anschluss daran einen Ausflug am Mariannensteig« machen. Der Sohn könne dann über Friedland »mit dem Frühzug« nach Dramburg zurückkehren.
Es ist bekannt, dass sich Ernst von Dryander, der Oberhofprediger des letzten deutschen Kaisers, im Sommer 1920 in Marzdorf aufhielt. Ein Brief, den Dryander am 18. Juni 1920 von Marzdorf aus an die Kaiser-Gemahlin Auguste Viktoria im niederländischen Doorn richtete, wurde von Walter Kähler bereits 1923 auszugsweise veröffentlicht2Walter Kähler: Ernst von Dryander. Ein Lebens- und Charakterbild mit drei seiner letzten Predigten und Briefen an die deutsche Kaiserin in Doorn, Berlin (Mittler) 1923, Seite 80 f.. Wer war Ernst von Dryander und welche Beziehung hatte er nach Marzdorf?
Ernst von Dryander wurde 1843 in Halle geboren und studierte dort und in Tübingen Theologie. Nach der Priesterausbildung im Berliner Domkandidatenstift durchlief er mehrere Pfarrstellen, bis er 1882 Pfarrer der Dreifaltigkeitskirche in Berlin wurde. 1892 folgte die Berufung zum Generalsuperintendent der Kurmark und 1898 zum kaiserlichen Oberhofprediger. Dryander gehörte zu den engsten Vertrauten von Wilhelm II., den er bereits aus dessen Studentenzeit in Bonn kannte und der ihn 1918 in den erblichen Adelsstand erhob. Das Vertrauensverhältnis blieb auch nach der Abdankung des Kaisers bestehen: Dryander weihte im Mai 1920 den Exilwohnsitz Haus Doorn bei Utrechtse Heuvelrug und leitete die Beerdigungsfeierlichkeiten der früheren Kaiserin Auguste Viktoria im April 1921 in Potsdam. Auch von seiner Gesinnung her blieb von Dryander, der im September 1922 starb, Monarchist. So sah er in der Abdankung des letzten Hohenzollern-Königs »ein Martyrium eines schuldlosen Leidens für die Sünden des Volkes«3Bernd Andresen: Ernst von Dryander, Eine biographische Studie, Berlin, New York (de Gruyter) 1995, S. 379.. Ernst von Dryander war der Vater des DNVP-Politikers Gottfried von Dryander (1876-1951).
Die Beziehung des Oberhofpredigers zum Gut in Marzdorf war gewiss über Hermann Franz Grüneisen (1872-1945) zustande gekommen, der 1906 Emmy Mariane Guenther, die älteste Tochter des Marzdorfer Gutsbesitzers Richard Guenther, geheiratet hatte. Ernst von Dryander war ein Onkel Grüneisens, dessen Mutter Elisabeth eine Schwester des Oberhofpredigers. Hermann Franz Grüneisen war nach der Revolution 1918 als Regierungsrat aus dem Staatsdienst ausgeschieden, weil ihm die neuen republikanischen Verhältnisse nicht behagten. Er sattelte auf die Landwirtschaft um und übernahm das Gut Wutzig aus dem Familienbesitz der Guenthers. Richard Guenther hingegen kehrte im Jahr 1920 aus Wutzig – wo er seit 1877 gelebt hatte – nach Marzdorf zurück. Nach den Familienerinnerungen übernahm er keine öffentliche Ämter mehr, sondern engagierte sich lediglich im Gemeinderat der evangelischen Kirche in Tütz. Wir können wohl davon ausgehen, dass Richard Guenther dem Onkel seines Schwiegersohn nicht nur den Park in Marzdorf für die beiden Andachten der Jahre 1920 und 1921 zur Verfügung stellte, sondern auch dessen monarchistische Gesinnung teilte.
Über die Inhalte und den Ablauf von Dryanders Andachten ist freilich nichts bekannt, da kein Jahrgang der Deutsch Kroner Tageszeitungen das Jahr 1945 überdauerte. Wir können nur mutmaßen, dass der frühere Oberhofprediger, der ein zündender Prediger war, über die Zukunft Deutschlands und der evangelischen Kirche sprach, wie er es in dieser Zeit sehr oft tat4Siehe dazu das Bändchen Ernst von Dryander: Deutsche Predigten aus den Jahren vaterländischer Not [Hrsg: Carl Grüneisen], Halle/Saale (Müller), 1923.. Leider kennen wir auch nicht die Reaktion der überwiegend katholischen Bevölkerung in Marzdorf auf die Andachtsserie im Gutspark. Ebensowenig ist über das Verhältnis Dryanders zur katholischen Geistlichkeit in Tütz und Umgebung überliefert. Dryander war auch in jener Zeit noch ein wichtiger Repräsentant der preußischen evangelischen Kirche und Tütz seit dem Dezember 1920 Sitz einer apostolischen Delegatur. Gab es ein Treffen zwischen ihm und Prälat Dr. Weimann? Wir wissen es nicht.
Der Ansichtskarte an Hans Dilling können wir jedoch entnehmen, dass »gestern« – also vermutlich am Sonntag, 12. Juni 1921 – ein Kriegerdenkmal in Stibbe eingeweiht wurde. Auch Stibbe gehörte damals zum Besitz der Guenthers. Die Säule zum Andenken an die »gefallenen Helden« steht heute wieder in der Gemeinde in Zdbowo. An ihrem Sockel heißt es: »In Treue fest«; das war in der Zeit der Weimarer Republik der Wahlspruch der deutschen Monarchisten.
Anmerkungen:
- 1Die Karte aus dem Verlag von F. Dilling in Tütz/Wpr. wurde im Januar 2021 bei allegro.pl versteigert. Der Barbier Fritz Dilling führte in Tütz am Markt ein Geschäft, in dem er auch Drogeriewaren anbot. Vermutlich ist er der Vater des Empfängers.
- 2Walter Kähler: Ernst von Dryander. Ein Lebens- und Charakterbild mit drei seiner letzten Predigten und Briefen an die deutsche Kaiserin in Doorn, Berlin (Mittler) 1923, Seite 80 f.
- 3Bernd Andresen: Ernst von Dryander, Eine biographische Studie, Berlin, New York (de Gruyter) 1995, S. 379.
- 4Siehe dazu das Bändchen Ernst von Dryander: Deutsche Predigten aus den Jahren vaterländischer Not [Hrsg: Carl Grüneisen], Halle/Saale (Müller), 1923.